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„Ich fühle, also bin ich“ Von Bas Kast

Quelle:  ZEIT ONLINE / ZEIT Wissen 

Psychologie

Ich fühle, also bin ich

Trauer und Wut, Freude und Überraschung – Emotionen sind nicht nur Beigaben zum Verstand. Sie sichern unser Überleben. Ohne Ekel würden wir Schimmel essen, Ärger macht uns wachsam. Und auch bei wichtigen Entscheidungen gilt: Der Bauch ist oft klüger, als man denkt.

Von Bas Kast

Es war einmal ein Mann, der liebte zwei Frauen und wusste nicht, für welche er sich entscheiden sollte. Die eine liebte er aus ganz anderen Gründen als die zweite – wie sollte er da wählen? Dummerweise wussten die beiden voneinander und hatten dem Mann die Pistole auf die Brust gesetzt: Sie oder ich!

In seiner Verzweiflung entschloss er sich, auf einem Blatt Papier die Vor- und Nachteile der Alternative aufzulisten. So sammelte er alle Kriterien, die ihm wichtig waren. Er versuchte sich vorzustellen, wie lieb Kandidatin eins ihn auch nach Jahren der Ehe noch behandeln würde im Vergleich zu Kandidatin zwei. Er bewertete das Äußere und überlegte, inwiefern die Frauen im späteren Leben interessante Gesprächspartner für ihn sein würden. Er gewichtete die Kriterien, gab jedem Element eine Punktzahl, addierte die Werte und verglich das Ergebnis.

Dann geschah etwas Seltsames. Er sah das Ergebnis und wusste instinktiv: Es ist falsch. Sein Herz hatte eine andere Entscheidung getroffen als sein Verstand.

Der Mann beschloss, seine Liste zu vergessen, und verbrachte viele Jahre glücklich mit der Frau seines Herzens. Er hatte auf sein Gefühl gehört.

Bittet man Gerd Gigerenzer, seine Forschungsergebnisse in wenigen Worten auf den Punkt zu bringen, erzählt er die Geschichte von dem Mann und den beiden Frauen. Gigerenzer ist kein Märchenonkel, sondern Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er gehört zu den renommiertesten Experten für die Psychologie von Entscheidungen. Und der Mann mit den Frauen ist kein Märchenprinz, sondern ein Bekannter von ihm.

Gigerenzers Thema ist nicht Herzschmerz, sondern die Anatomie der Ratio. Und die Quintessenz aus 20 Jahren Entscheidungsforschung lautet auch nicht einfach: Geh, wohin dein Herz dich trägt. Gigerenzer und seine Kollegen, Psychologen, Kognitions- und Hirnforscher rund um die Welt, sind dabei, jene Prozesse zu entschlüsseln, auf denen unser Denken, unsere Gefühle und unsere Intuition beruhen, und sie stellen fest: In vielen Situationen fährt man mit dem Bauchgefühl besser als durch langes Räsonieren.

Manche von ihnen, Neuroökonomen etwa, die mit Kernspintomografen direkt in den Kopf von Konsumenten gucken, während diese zwischen Jever oder Becks wählen müssen, gehen noch einen Schritt weiter und behaupten: Entscheidungen ohne Gefühle gibt es gar nicht. Der Homo oeconomicus, der die Alternativen rein rational abwägt, erweist sich als Fiktion der klassischen Wirtschaftstheorie.

Neuroökonomen von der Universität Münster stellten vor wenigen Monaten in einer Studie im Journal of Neuroimaging sogar fest: Werden wir mit unserem Lieblingsbier oder unserer bevorzugten Kaffeemarke konfrontiert, schaltet sich der Verstand geradezu aus – Gefühlsareale werden aktiviert und übernehmen die Entscheidung.

»Alle Entscheidungen sind letztlich Gefühlsentscheidungen«, sagt Gerhard Roth, Hirnforscher an der Universität Bremen. Grundlage unserer Motivation sei immer das Gefühl, dazwischen komme eventuell die Ratio ins Spiel.

Es geht hier nicht um die viel bemühte »emotionale Intelligenz« oder die Wiederentdeckung der »sozialen Kompetenz«. Es geht um die vielen hundert großen und kleinen Entscheidungen, die jeder von uns Tag für Tag treffen muss. Es geht um das Wesen des Menschen: ums Denken.

Befand sich die Psychologie in den 80er Jahren noch inmitten einer »kognitiven Wende«, in der sich die Wissenschaftler dem menschlichen Verstand zuwandten, so zeichnet sich inzwischen eine »emotionale Wende« ab. In einem Übersichtsartikel für die Annual Review of Psychology kommt die Hirnforscherin Elizabeth Phelps von der New York University Anfang dieses Jahres zu dem Schluss: »Um das menschliche Denken zu verstehen, müssen wir die Emotionen berücksichtigen.« Immer mehr Kognitionsforscher erkennen: Wer denken will, muss fühlen. »Hier vollzieht sich auf breiter Front ein vollkommener Blickwechsel«, verkündet Roth. »Und es fängt gerade erst richtig an.«

Eine Revolution im Kopf. Schließlich galten Gefühle jahrhundertelang als »nicht edel«, wie Roth sagt, »haben sie doch mit dem Körper, dem Bauch und noch viel unedleren Teilen zu tun«. Der Mensch definierte sich über den Verstand. Gefühle kamen bestenfalls als »Luxus« davon.

Oft wurden Gefühle regelrecht verachtet. Plato hielt Emotionen für eine Art Krankheit. Nur mit dem Verstand, glaubte der griechische Philosoph, ließe sich der »Dämon der Gefühle« zähmen. Auch den Stoikern erschienen Gefühle als lästige Denkfehler.

Bis auf den heutigen Tag fallen wir vor der Ratio auf die Knie. Wenn es darum geht, eine wichtige Wahl zu treffen, scheint der Halbvulkanier Mr. Spock aus der Science-Fiction-Serie Raumschiff Enterprise das heimliche Vorbild zu sein. Spock kennt keine Emotionen. Ungestört von Gefühlsvernebelung, so die Botschaft, ist er in der Lage, besonders klare Analysen abzugeben.

Klar, Gefühle können uns in die Irre führen. Und wie. Oft aber, darauf deuten viele der neuen Befunde, verleiten sie uns nicht zu Denkfehlern, im Gegenteil: Oft sind die Gefühle schlauer als der Verstand.

Den Auftakt zur emotionalen Wende machte Ende der 90er Jahre der Neurologe Antonio Damasio von der Universität von Iowa. Mit einem bahnbrechenden Experiment kam er der Intelligenz unserer Gefühle als einer der ersten auf die Spur. Damasio legte Probanden vier Kartenstapel hin, von denen sie jeweils eine Karte ziehen sollten. Die Karten zweier Stapel (A und B) warfen große Gewinne ab, während bei den Karten der anderen Stapel (C und D) der Profit mager ausfiel.

Der Haken an der Sache: In den Stapeln, die zu den hohen Gewinnen führten, lag hin und wieder auch eine »rote Karte«, die eine empfindliche Geldbuße mit sich brachte. Die beiden anderen Stapel waren zwar ebenfalls mit Strafkarten durchsetzt; hier aber fielen die Verluste geringer aus. Damasio hatte das Kartenspiel so arrangiert, dass es auf lange Sicht günstiger war, sich von den Stapeln C und D zu bedienen.

Vor dem Spiel klebte Antonio Damasio Elektroden an die Haut der Testpersonen, um deren Hautleitfähigkeit zu messen, die immer dann steigt, wenn man nervös wird und anfängt zu schwitzen – eine Art Lügendetektor.

Zunächst war keinem der Teilnehmer klar, welcher Stapel wie viel Gewinn abwarf. Runde um Runde verging. Keiner durchschaute das System. Erst nach der fünfzigsten Karte äußerten einige den Verdacht, Stapel A und B seien »irgendwie riskant«.

Die Überraschung folgte, als Damasio einen Blick auf den Lügendetektor warf. Bereits bei der zehnten Karte hatte der Lügendetektor Alarm geschlagen, als die Spieler nach den Stapeln A und B griffen. Das Gespür hatte die Gefahr, die von den beiden riskanten Stapeln ausging, also lange vor dem bewussten Verstand gewittert. »Emotionen«, schlussfolgert Damasio, »sind keineswegs ein Luxus.« Vielmehr würden wir ohne sie »ziemlich dumm dastehen«.

Nachdem Charles Darwin seine Evolutionstheorie aufgestellt hatte, erkannten Biologen, dass sich auch Gefühle als Form der Intelligenz verstehen lassen, ohne die unsere haarigen Vorfahren in der afrikanischen Savanne wohl kaum überlebt hätten. Gefühle stellen aus dieser Sicht keine Denkfehler, sondern vielmehr »verkörperte Information« dar. Freude etwa teilt uns mit: alles in Ordnung, mehr davon. Angst mahnt zur Vorsicht, macht wachsam gegenüber Gefahren. Ekel veranlasst zu Hygiene und warnt vor verdorbener Nahrung (siehe Kästen).

Wie wichtig gerade auch die negativen Gefühle für unser Überleben sein können, wird deutlich, wenn sie plötzlich gar nicht mehr da sind. So berichtete Antonio Damasio von einer Patientin (Frau S.), die kaum noch Angst zu empfinden scheint. Frau S. hat auch extreme Schwierigkeiten, Angst in den Gesichtern anderer Menschen zu erkennen. Dies gelingt ihr nur, wenn sie die ausdrückliche Instruktion bekommt, ihre Aufmerksamkeit auf die Augenpartie eines Gesichts zu lenken. Aufgrund einer seltenen Erbkrankheit sind bei Frau S. die beiden Mandelkerne ihres Gehirns verkalkt. Die kleinen Nervenzellbündel tief im Innern des Gehirns gelten als Teil eines neuronalen Angstzentrums: Sobald wir uns fürchten, »feuern« unter anderem die Mandelkerne (siehe Kasten auf Seite 18).

Frau S. ist immer freundlich, fröhlich und entgegenkommend. Etwas zu entgegenkommend, wie Damasio bemerkt. Sie lässt sich von jedem Fremden bereitwillig umarmen und brennt förmlich darauf, mit jedem zu interagieren, der ein Gespräch mit ihr anfängt. Dabei wird Frau S. von ihren Mitmenschen immer wieder reingelegt, ausgenutzt und betrogen. Die gesunde Portion Argwohn, die uns bewahrt, jedem und allem blind zu vertrauen, bei Frau S. ist sie offenbar verloren gegangen – es ist der Preis der Furchtlosigkeit.

Nicht nur Angst und Vorsicht, sondern viele Gefühle begleiten uns durch den Alltag wie Schutzengel. Damasios Kollege Ralph Adolphs vom California Institute of Technology in Pasadena hat kürzlich im Fachblatt Brain and Cognition die Fallgeschichte von Herrn B. beschrieben, bei dem nach einer durch Herpes-Viren hervorgerufenen Hirnentzündung jedes Gefühl von Ekel wie ausgelöscht schien. Die Infektion hatte eine ausgedehnte Hirnverletzung nach sich gezogen: Beide Mandelkerne sowie diverse andere Areale waren verletzt, darunter eine Region namens insulärer Cortex.

Stellte sich einer der Forscher vor Herrn B. und tat so, als würde er sich erbrechen und eine ungenießbare Speise ausspucken, beschrieb Herr B. die Szene mit den Worten, hier würde jemand offenbar »herrliches Essen genießen«. Herr B. trank Milch, die bereits aus Klumpen bestand, und fand sie »lecker«. Wie Frau S., so war auch Herrn B. ein Teil seines natürlichen Alarmsystems abhanden gekommen. Die Folge: Bei jedem Griff zum Kühlschrank riskierte der Mann eine Lebensmittelvergiftung.

Doch neben den Gefühlen, die uns die Evolution mit auf den Weg gegeben hat, verfügen wir noch über das, was man »Bauchgefühl«, »Gespür« und »Intuition« nennt. Es lässt sich weniger leicht fassen, weil es sich weitgehend aus unbewussten Quellen des Gehirns speist. Unsere Intuition ist teils angeboren, zum Großteil aber schöpft sie aus Erfahrungen, die wir im Laufe des Lebens gesammelt haben.

Wie groSS die Macht der Intuition ist, demonstrierte vergangenes Jahr der New Yorker Reporter Malcolm Gladwell mit seinem Buch Blink! (etwa: »Wimpernschlag«). »Intuitive Entscheidungen«, lautet Gladwells Credo, »können sehr schnell gefällt werden und sind deshalb keinen Deut schlechter als Entscheidungen, die am Ende eines langen Für und Wider stehen.«

In seinem spektakulärsten Beispiel berichtet er vom Getty-Museum in Los Angeles, dem in den 80er Jahren eine griechische Jünglingsstatue angeboten wurde. 14 Monate lang rückte man der angeblich antiken Plastik mit High-Tech-Geräten auf den Marmorleib: mit Elektronenmikroskop, Massenspektrografie, Röntgendiffraktions- und Röntgenfloureszenzuntersuchungen. Eindeutiger Befund: Das Kunstwerk ist echt.

Kurz vor Abschluss des Kaufvertrags sah sich Thomas Hoving, der ehemalige Leiter des Metropolitan Museum of Art in New York, die Figur an. Das Erste, was ihm in den Sinn kam, war »frisch« – »nicht gerade das erste Wort, das einem beim Anblick einer zweieinhalbtausend Jahre alten Statue einfallen sollte«, schreibt Gladwell. Andere Experten meldeten ebenfalls spontan Zweifel an. Den Leiter der Archäologischen Gesellschaft in Athen überfiel, als er den Jüngling zum ersten Mal sah, »sofort ein Frösteln am ganzen Körper« und »das Gefühl, uns würde eine unsichtbare Wand trennen«.

Tatsächlich stellte sich dann heraus: Die Statue, für die der Kunsthändler zehn Millionen Dollar verlangte, stammte aus einer Fälscherwerkstatt in Rom. Die monatelangen wissenschaftlichen Analysen erwiesen sich als wertlos – richtig dagegen lag eine Hand voll Kunstkenner, die in Sekundenschnelle zu einem treffsicheren Urteil gekommen war. Mit ihrem Bauchgefühl.

Manchmal, das betont auch Gladwell, liegen wir mit unserer Intuition daneben: Jahrhundertelang hat sie uns vorgegaukelt, die Sonne würde sich um die Erde drehen. Es bedurfte schon des Verstandes, um dahinterzukommen, wie es sich wirklich verhält. In vielen anderen Situationen aber ist, wie Versuche zeigen, unser Bauchgefühl dem analytischen Verstand überlegen.

In einem Experiment ließen die US-Psychologen Timothy Wilson und Jonathan Schooler eine Gruppe von Studenten fünf Kunstposter bewerten. Zur Wahl standen unter anderem ein Van Gogh und Monets Nymphéas. Die Hälfte der Teilnehmer sollte zunächst das Für und Wider der Poster schriftlich auflisten. Die anderen sollten spontan entscheiden, sich auf ihr Gefühl verlassen. Im Anschluss schenkten die Forscher den Probanden das Plakat, das ihnen am besten gefallen hatte.

Wochen später, am Ende des Semesters, riefen die Psychologen die Studenten an, um nachzufragen, ob ihnen das Poster noch gefiel. Überrascht stellten sie fest, dass jene, die die Plakate analysiert hatten, mit ihrer Wahl nicht sonderlich zufrieden waren. Als glücklicher erwiesen sich die Spontanentscheider – sie hatten ihr Poster auch häufiger in ihrer Wohnung an die Wand gepinnt. Der Verstand hatte offenbar eine schlechtere Wahl getroffen als das Bauchgefühl.

Und das ist nicht etwa ein Ausnahmebefund. Ähnliche Resultate erhält man, wenn es um den Kauf von Aktien, Frühstücksmarmelade oder, wie die Psychologin Cornelia Betsch von der Universität Heidelberg vor kurzem feststellte, um die Wahl einer Hautcreme geht. In verschiedenen Bereichen des Alltags beobachten Wissenschaftler: Mehr Analyse führt nicht unbedingt zu einer besseren Entscheidung.

Wie kann das sein? Woher bezieht unser Bauchgefühl bloß seine Macht? Ist unser Verstand etwa dümmer, als wir dachten? Nicht unbedingt, doch die Kapazität der bewussten Ratio ist schlicht begrenzt.

Das Bewusstsein bewältigt, so schätzt man, ungefähr 50 Basiseinheiten von Information (Bits) pro Sekunde. Das Unbewusste dagegen wird sogar mit Millionen von Bits fertig. In jeder Sekunde verarbeiten unsere Sinne mehrere Millionen Bits, nur ein Bruchteil davon jedoch dringt ins Bewusstsein. Der Hirnforscher Gerhard Roth schätzt, dass uns weniger als 0,1 Prozent dessen, was das Gehirn tut, aktuell bewusst wird. Der enorme Rest wird unbewusst erledigt. Das Unbewusste kann somit eine Vielzahl von Informationen gleichzeitig verarbeiten. Das ist ein großer Vorzug, geht aber auch mit einigen Nachteilen einher.

Die bewusste Ratio ähnelt einem Scheinwerferlicht, das einen Punkt im Raum klar beleuchten kann, zum Beispiel das Gesicht eines Schauspielers. Jedes Detail des Gesichts wird sichtbar. Die Bühne bleibt im Dunkeln. Unser bewusstes Denken ist somit sehr präzise und fokussiert, fixiert sich aber auf Details und verliert schnell das große Ganze aus dem Auge.

Das unbewusste Gespür gleicht dagegen eher einem schwachen Flutlicht, mit dem man nicht jede Feinheit sehen kann. Was macht 8 mal 15? Man könnte die Aufgabe an sein Unbewusstes delegieren, es stundenlang darüber brüten lassen – es käme nie zu einer Lösung. Präzision gehört nicht zu seinen Stärken. Dafür werden die Umrisse der ganzen Bühne sichtbar. Alles wird ein bisschen beleuchtet. Diese Strategie erweist sich gerade in komplexen Situationen als Vorteil.

Anhaltspunkte dafür, dass unser unbewusstes Gespür tatsächlich »denken« kann, liefert auch der niederländische Psychologe Ap Dijksterhuis, der dem Poster-Experiment seiner US- Kollegen eine weitere Drehung gab. Der Forscher von der Universität von Amsterdam wiederholte diesen Versuch, fügte aber eine dritte Variante hinzu. Eine Gruppe von Teilnehmern sollte die Plakate nun weder sofort bewerten noch sich bewusst mit ihnen auseinander setzen. Stattdessen zeigte der Psychologe erst die Plakate, um die Probanden unmittelbar danach einige Minuten mit einer kniffligen Sprachaufgabe abzulenken, sodass sie nicht weiter über die Poster nachdenken konnten. Anschließend sollten sie ihre Entscheidung treffen.

Als Dijksterhuis Wochen später anrief, um sich wie üblich nach den Plakaten zu erkundigen, stellte er fest: Von allen Teilnehmern bewerteten die Personen, die er vor der Entscheidung eine Zeit lang abgelenkt hatte, die Poster am positivsten – positiver noch als die Spontanentscheider!

Ihnen sprang, wie der Forscher vermutet, das Unbewusste zur Seite. Während der Verstand an der Sprachaufgabe knabberte, konnten die Eindrücke der Poster in aller Ruhe zu den tieferen Schichten des Gehirns hinabsteigen, wo unbewusste Prozesse eine Bewertung vornahmen. Und da die Rechenleistung des Unbewussten weitaus größer ist als die des Bewusstseins, war es den Probanden möglich, zahlreiche Aspekte des Posters in Betracht zu ziehen.

Umgekehrt gerieten jene, die bewusst über die Poster nachdenken sollten, schnell an die natürlichen Kapazitätsgrenzen, klammerten sich in ihrer Not an einige ausgewählte Details – und trafen dadurch eine schlechtere Entscheidung. »Das Unbewusste«, sagt Dijksterhuis, dessen Studie Ende dieses Jahres erscheinen wird, »ist manchmal rationaler als der bewusste Verstand.«

Mr. Spock, der gefühllose Halbvulkanier aus Raumschiff Enterprise, wäre im richtigen Leben ganz schön aufgeschmissen. Gerade jemand, der im Alltag nicht von seinen Gefühlen abgelenkt und verwirrt wird, könnte man meinen, müsste in der Lage sein, besonders rationale, besonders gute Entscheidungen zu treffen. Genau das Gegenteil trifft zu, wie auch die bekannteste Fallgeschichte des Neurologen Damasio unterstreicht: die Geschichte von Elliot.

Elliot, ein erfolgreicher Jurist, war ein Vorbild für seine Kollegen, ein liebevoller Ehemann und Vater. Bis ein Tumor von der Größe einer Zitrone sein vorderes Stirnhirn zerstörte. Das Geschwür wurde entfernt, doch Elliot war nicht mehr Elliot.

Verblüffenderweise war sein IQ völlig intakt geblieben. Dafür war seine Gefühlswelt zutiefst gestört: Elliot empfand so gut wie nichts mehr. Und mit diesem Verlust der Gefühle, schien es, ging auch Elliots Sinn für das Wesentliche im Leben verloren. Während der Arbeit konnte er stundenlang grübeln, wie er die Papiere auf seinem Schreibtisch ordnen sollte. Ständig verzettelte er sich. Elliot wurde gekündigt, und schließlich ging auch seine Ehe in die Brüche.

Damasio ließ Elliot und weitere Patienten mit ähnlichen Schäden des vorderen Stirnhirns ebenfalls an dem Kartenspiel teilnehmen. Dabei zeigte sich: Weder schlug bei ihnen der Lügendetektor aus, sobald sie nach den Stapeln mit den gefährlichen Karten griffen, noch änderten sie im Laufe des Spiels ihr Verhalten. Selbst als sie das System durchschaut hatten – was bei dem hoch intelligenten Elliot nach wenigen Runden der Fall war -, bedienten sie sich weiterhin von den riskanten Karten. Es war, als könne der Verstand ohne das warnende Gefühl die Patienten nicht zu einer vernünftigen Entscheidung veranlassen.

Lange hat man das Gefühl gegen den Verstand ausgespielt. »Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Geist ein treuer Diener«, sagte Einstein und kritisierte: »Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.« Allmählich aber, so scheint es, weiß man das Geschenk, von dem Einstein sprach, wieder etwas mehr zu würdigen. Nun jedoch den Verstand zu verteufeln und die Gefühle kritiklos zu verehren hieße allerdings, in den umgekehrten Fehler zu verfallen. Verstand und Gefühl haben beide ihre Stärken. Wann also sollte man sich auf sein Gespür verlassen – und wann den Kopf einschalten?

Regel Nummer eins: Wer bereits Erfahrung auf einem Gebiet hat, kann sich meist auf sein Bauchgefühl verlassen. Ist man dagegen ein blutiger Laie, profitiert man oft davon, sich mehr Zeit zu lassen, sich ausführlicher und bewusst mit der Situation auseinander zu setzen.

Untersuchungen, in denen man die Leistung von Experten mit der von Novizen verglichen hat, untermauern diese Regel. So hat die Psychologin Sian Leah Beilock von der Universität von Chicago kürzlich beobachtet: Profi-Golfspieler schlagen den Ball dann am besten, wenn man ihnen keine Zeit lässt, um über ihren Schlag nachzudenken; bei Anfängern verhält es sich genau umgekehrt. Regel Nummer zwei: Je unübersichtlicher die Situation, desto öfter versagt die Analyse – und die Intuition entwickelt Vorteile.

Einen Hinweis erbrachte Gerd Gigerenzer mit einem kühnen Versuch. Er fragte Passanten in München und Chicago anhand einer Liste mit den Namen von Aktienunternehmen, welche davon sie kannten. Dann investierte er 50 000 Euro in jene Firmen, die fast allen geläufig waren. Ein halbes Jahr später hatte sein Portfolio nahezu alle Analysen hochinformierter Investmentanalysten geschlagen. Er hatte nach einer Faustregel, die wir oft intuitiv anwenden, gehandelt: Nimm das Bekannte!

Vernünftige Erwägungen in den Wind zu schlagen und seinen Gefühlen blind zu folgen kann jedoch ebenso ins Verderben führen wie Analysewut und Hyperrationalität. Vor wenigen Jahren berechnete Gigerenzer anhand von Daten des US-Verkehrsministeriums die Zahl der Verkehrstoten nach dem 11. September 2001 in den USA, als die Menschen aus Angst vorm Fliegen aufs Auto umgestiegen waren. Die Zahl der Todesopfer in den drei Monaten nach 9/11 lag um 350 über dem langjährigen Durchschnitt und überstieg damit die Zahl derjenigen, die in den abgestürzten Flugzeugen ums Leben gekommen waren.

Wie fühlen wir?

Hirnstamm, cortex, mandelkern

Langsam entdecken Neurowissenschaftler derzeit jene Hirnstrukturen, die uns fühlen lassen. Im Mittelpunkt steht das so genannte limbische System, ein Netzwerk aus zahlreichen Hirnregionen, die stammesgeschichtlich zu den älteren gehören und unter der Großhirnrinde liegen. Es ist vor allem für das unbewusste Verarbeiten und Bewerten von Emotionen zuständig. Die bewusste Verarbeitung findet vorwiegend im präfrontalen Cortex statt. Zum limbischen System zählen auch die beiden Mandelkerne nahe der Ohren ebenso wie der insuläre Cortex und ein Gebiet im Hirnstamm, das man als »Belohnungssystem« bezeichnet und dessen Aktivität mit guten Gefühlen einhergeht. Im Mandelkern werden überwiegend negative Gefühle wie Ekel, Angst und Ärger ausgelöst. Aber nicht nur: Ist zugleich das Belohnungssystem erregt, stellt sich ein Gefühl freudiger Überraschung ein. »Der Mandelkern wühlt uns emotional auf«, sagt der Hirnforscher Gerhard Roth – wie wir uns dabei genau fühlen, ob verängstigt, verärgert oder glücklich, hängt von der Aktivität weiterer Areale des limbischen Systems ab.