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Visuelle Wahrnehmung – Psychophysik, Physiologie und fMRI-Studien • Prof. Dr. Logothetis

Menschen sind vor allem sehende Wesen. Unser Sehvermögen erlaubt es uns, schnell eine Fülle an Informationen über verschiedene Aspekte unserer Welt zu erhalten: die räumliche, dreidimensionale Anordnung unserer Umgebung, die Entfernung zu Objekten in greifbarer Nähe, die Reflexionseigenschaften von Oberflächen, unsere eigene Geschwindigkeit und die uns umgebender Objekte, die Identitäten und sogar die Emotionen anderer Leute – und all das in einem einzigen Augenblick. Folglich wiegt kein anderer Sinnesverlust schwerer als Blindheit. Es ist daher kein Zufall, dass ein Hauptinteresse der Neurowissenschaft dem Verständnis der Funktion der dem Sehsinn dienenden neuronalen Substrate gilt, welche erstaunliche 30 bis 40 Prozent der Gesamtoberfläche des zerebralen Kortex einnehmen. Dabei spielt auch die Hoffnung eine Rolle, dass sich Erkenntnisse aus Untersuchungen des visuellen Systems auf andere neuronale Systeme des Gehirns übertragen lassen. Aus diesen Gründen zielen die Anstrengungen unserer Abteilung zu einem wesentlichen Teil auf die Aufklärung einiger kritischer Aspekte der visuellen Funktion, wobei Psychophysik, Elektrophysiologie, EEG sowie fMRI eingesetzt werden.

 

Im menschlichen Gehirn reagieren unterschiedliche Regionen vorzugsweise auf globale (Eigenbewegung) oder lokale (Objektbewegung) Reize. (a) Hirnaktivität mit Bezug auf globale und lokale Bewegung, wenn Menschen einen Film als Stimulus sehen; (b) Amplituden der fMRI-Signal-Reaktion der Regionen in (a); (c) Beispielbilder des Film-Stimulus mit primär lokaler bzw. globaler Bewegung. Eingeblendet sind Flussvektoren (rot) aus der Computeranalyse des Films [3].
Im menschlichen Gehirn reagieren unterschiedliche Regionen vorzugsweise auf globale (Eigenbewegung) oder lokale (Objektbewegung) Reize. (a) Hirnaktivität mit Bezug auf globale und lokale Bewegung, wenn Menschen einen Film als Stimulus sehen; (b) Amplituden der fMRI-Signal-Reaktion der Regionen in (a); (c) Beispielbilder des Film-Stimulus mit primär lokaler bzw. globaler Bewegung. Eingeblendet sind Flussvektoren (rot) aus der Computeranalyse des Films [3].

Im wirklichen Leben stehen visuelle Reize kaum einmal still, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen führen unsere Augen, unser Kopf und unser Körper zu praktisch unaufhörlichen Bewegungsreizen, zum anderen gibt es unabhängig davon die „reale“ Bewegung der Objekte um uns herum. Die Untersuchung der Prozessierung visueller Bewegung und der Eigenbewegung mittels fMRI am Menschen in Zusammenarbeit mit der Abteilung Bülthoff repräsentiert einen Teil unserer Anstrengungen zur Identifizierung und Charakterisierung der Eigenschaften, der Konnektivität und der kausalen Einbindung verschiedener höherer Hirnregionen, die Bewegung prozessieren und die diese unterschiedlichen Bewegungssignale voneinander trennen, was es uns ermöglicht, eine stabile Welt wahrzunehmen. Sie nutzen die Reize dynamischer Veränderungen der Perspektive, um uns über die dreidimensionale Anordnung unserer Umgebung zu informieren (siehe dazu Abbildung 1).

Die Wahrnehmungsfülle dynamischer, natürlicher visueller Stimuli eignet sich nicht nur dazu, Fragen der Funktion anzugehen, sondern auch solche Fragen, die die Natur der Signale betreffen, die von Neurowissenschaftlern im Gehirn gemessen werden. Wir nutzen die komplexe Reaktion auf natürliche Stimuli, um invasiv gewonnene neurophysiologische Signale mit Signalen in Beziehung zu setzen, die nichtinvasiv gesammelt wurden. So können wir immer besser verstehen, wie gut solche nichtinvasiven Signale die lokale neuronale Aktivität widerspiegeln, was sowohl für die klinische als auch für die Grundlagenforschung am Menschen von großer Relevanz ist.

Informationen über die Farbe ergänzen Informationen über Bewegungsreize, auch wenn beide völlig unabhängig voneinander sind. Es wurde gezeigt, dass Farbe und Bewegung in weitgehend unabhängigen Bahnen des Kortex prozessiert werden. Dadurch ergibt sich das „Bindungsproblem“: Wie werden unterschiedliche visuelle Reize allem Anschein nach von uns perfekt zusammen wahrgenommen, wenn sie doch unabhängig voneinander prozessiert werden? Die Kodierung von Farbe, Bewegung, Orientierung und ihrer Verbindungen im visuellen Gehirn (in Zusammenarbeit mit der Universität Sydney) ist eines unserer Versuche, das Problem der Merkmalsintegration innerhalb des visuellen Systems im menschlichen Gehirn anzugehen.

Neben der Untersuchung neuronaler Reaktionen, die durch Veränderungen der physischen Stimuli hervorgerufen werden, gehört es zu den fundamentalen Zielen der Neurowissenschaft, subjektive Wahrnehmungserfahrungen mit objektiven Messungen neuronaler Aktivität in Beziehung zu setzen. Bistabile Perzepte im allgemeinen und binokulare Rivalität im besonderen sind dafür ideale Ausgangspunkte, da sich hier die subjektiven Perzepte mit der Zeit verändern, auch wenn die physische Stimulation konstant bleibt. Bei der binokularen Rivalität werden den beiden Augen zwei unterschiedliche Bilder präsentiert, was zu Perzepten führt, die zwischen den beiden alternieren. Das Interesse an diesem Phänomen aus neurowissenschaftlicher Perspektive ist ganz einfach: Wenn wir verstehen, welche neuronalen Prozesse für die Auswahl der wahrgenommenen (dominanten) Stimulusrepräsentation statt der nicht wahrgenommenen (unterdrückten) verantwortlich sind, sind wir wohl einen Schritt näher am Verständnis der Mechanismen hinter der bewussten visuellen Wahrnehmung. Hinzu kommen weitere Gründe, die die Untersuchung der binokularen Rivalität interessant machen: Die stochastische Natur der Wahrnehmungsübergänge bei Rivalität ähnelt der bei vielen anderen bistabilen Wahrnehmungsphänomenen, z. B. bei einem Vase/Gesichter-Kippbild oder bei Phänomenen, die in anderen Sinnesmodalitäten, z. B. beim Fühlen oder beim Hören, auftauchen. Wahrnehmungsübergänge und die stabilen Phasen dazwischen sind also vielleicht Indikatoren von dynamischen Eigenschaften, die ganz allgemein hinter der sensorischen Prozessierung stecken. Versteht man die neuronalen Prozesse, die an der Rivalität beteiligt sind, so erkennt man vielleicht auch besser die fundamentalen Eigenschaften neuronaler Prozessierung [1, 2].

Extrazelluläre Ableitungen in wachen Affen zeigen, dass Modulationen der mittleren Populationsaktivität nach einem Wahrnehmungswechsel im primären visuellen Kortex des Makaken signifikant geringer sind (a) als im ventrolateralen präfrontalen Kortex (b). Interessanterweise zeigen Experimente mit Kopfhaut-EEGs von Menschen, dass der anteriore präfrontale Kortex nach einem Wahrnehmungswechsel Quelle eines Anstiegs im 12–30Hz-Frequenzbereich ist (c). (Pfeile in den Schaubildern a, b und c zeigen das Auftreten eines Wahrnehmungswechsels an. Anzumerken ist, dass in den Perioden nach einem Wahrnehmungswechsel die sensorische Stimulation konstant gehalten wird, und dass jedwede Unterschiede Wahrnehmungseffekte reflektieren.)
Extrazelluläre Ableitungen in wachen Affen zeigen, dass Modulationen der mittleren Populationsaktivität nach einem Wahrnehmungswechsel im primären visuellen Kortex des Makaken signifikant geringer sind (a) als im ventrolateralen präfrontalen Kortex (b). Interessanterweise zeigen Experimente mit Kopfhaut-EEGs von Menschen, dass der anteriore präfrontale Kortex nach einem Wahrnehmungswechsel Quelle eines Anstiegs im 12–30Hz-Frequenzbereich ist (c). (Pfeile in den Schaubildern a, b und c zeigen das Auftreten eines Wahrnehmungswechsels an. Anzumerken ist, dass in den Perioden nach einem Wahrnehmungswechsel die sensorische Stimulation konstant gehalten wird, und dass jedwede Unterschiede Wahrnehmungseffekte reflektieren.)

Die Bedeutung der oben angeschnittenen Fragen bringt uns dazu, das Problem auf unterschiedlichen Ebenen der visuellen Prozessierungshierarchie zu untersuchen, unter Einsatz einer Vielfalt methodologischer Ansätze (siehe Abbildung 2). Das Projekt zur Untersuchung der Mechanismen der Wahrnehmungsunterdrückung im primären visuellen Kortex deckt die kleinen, möglicherweise jedoch höchst wichtigen Wahrnehmungsmodulationen in den frühesten Stadien der visuellen Prozessierung auf. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist noch unklar, ob diese lokal auftreten oder aber als Ergebnis eines Feedbacks von höheren oder höchsten Ebenen der Prozessierung, wo sich viel stärkere Wahrnehmungsmodulationen beobachten lassen, wie bei den Untersuchungen zur den Neurophysiologischen Mechanismen der binokularen Rivalität im präfrontalen Kortex des Makaken. Teilweise beantwortet wird diese Frage durch die psychophysischen Belege in Experimenten zur binokularen Rivalität und deren Zeitabhängigkeit von Beiträgen des Auges und des Stimulus. Diese Untersuchung zeigt, dass die Stärke monokularer, d. h. vom Auge ausgehender Beiträge zum Perzept exakt mit der Stärke der Bildrepräsentationen kovariiert, was eine Kopplung beider mittels Feedback nahe legt. Ein Vergleich zwischen interokularem Wechsel und klassischer binokularer Rivalität im menschlichen Gehirn mittels EEG liefert Beweise für Unterschiede in der stabilen Wahrnehmung beim Betrachten eindeutiger bzw. zweideutiger Stimuli. Interessanterweise lassen sich unter diesen Bedingungen auch Unterschiede der oszillatorischen Leistung im präfrontalen Kortex identifizieren. Und schließlich versuchen wir auch dadurch neue Einblicke in die Mechanismen bistabiler Wahrnehmung zu bekommen, indem wir neuronale Daten für Rechenmodelle nutzen. In einem solchen neuronalen Modell finden wir Belege dafür, dass ein Wahrnehmungswechsel durch eine optimale Kombination aus Rauschen und Spikefrequenz-Adaptation ausgelöst wird.

Die oben genannten Studien liefern erste Hinweise auf die Mechanismen hinter Wahrnehmungswechseln und der Aufrechterhaltung stabiler Perzepte. Bei der Bestimmung der neuronalen Korrelate des Bewusstseins an narkotisierten Affen untersucht wir zudem, inwieweit physiologische Veränderungen, die zuvor Wahrnehmungsveränderungen zugeschrieben wurden, von pharmakologischer Manipulation, die jedweden bewussten Zustand ausschaltet, betroffen sind oder nicht.

Es ist eine fundamentale Herausforderung, nicht nur die psychophysischen und physiologischen Korrelate der Wahrnehmung zu bestimmen, sondern auch zwischen neuronalen Prozessen, die sie verursachen, und neuronalen Prozessen, die daraus resultieren, zu unterscheiden. Unsere Forschung kann uns einen Schritt voranbringen, so dass wir besser verstehen, wie das Gehirn die Welt um uns herum darstellt.

Quelle: Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik

Literatur

1. Logothetis, N. K., D. A. Leopold, D. L. Sheinberg: What is Rivaling during Binocular Rivalry? Nature 380, 621–624 (1996).
2. Blake, R., N. K. Logothetis: Visual Competition. Nat Rev Neurosci 3, 13–21 (2002).
3. Bartels, A., S. Zeki, N. K. Logothetis: Natural Vision Reveals Regional Specialization to Local Motion and to Contrast-invariant, Global Flow in the Human Brain. Cereb. Cortex 18, 705–717 (2008).