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Kohärenz als neuronales Korrelat von Bewußtsein und Wahrnehmungsinhalten

Bewußtsein ist das entscheidende Moment bei der Individuierung und kontinuierlichen Identifikation des eigenen „Ichs“ als Ich-Identität, welche in einem Körper lebt, dessen materielle Substanz im Laufe weniger Monate nahezu vollkommen ausgetauscht ist und dessen Struktur und Form sich von der Jugend bis zum Alter hin ebenfalls deutlich wandelt. Nicht weniger verändern sich die synaptischen Verbindungsstrukturen des zentralen Nervensystems im Laufe des Lebens, ins besondere in den Entwicklungsjahren. Auch Einstellungen, Prioritäten, die Sichtweise auf die Welt und die Vorstellungen darüber, was gut und was schlecht ist, verändern sich im Jugendalter und vielfach noch im späteren Leben. Grund für die Identifikation des gestrigen „Ichs“ mit dem heutigen „Ich“ ist die Tatsache, daß es etwas über die Zeit hinweg Beständiges (eine Identität oder Selbigkeit) gibt, von dem wir annehmen, daß es nicht in der Erinnerung begründet ist (es wäre schließlich möglich, daß es uns nur jetzt gibt, und unsere Erinnerung an eine Vergangenheit trügt). Somit identifizieren wir uns auch mit jenem „Ich“ vergangener Tage, an die wir uns überhaupt nicht mehr erinnern können. Das Identifikationsmoment ist unser phänomenales Empfinden, das im Bewußtsein begründet ist.

Die Philosophie des Geistes, welche ontologische, erkenntnistheoretische, semantische und methodische Fragen in Bezug auf die mentale Seite unseres Lebens zum Gegenstand hat, stellt heute zwei Merkmale des Mentalen als wesentlich in den Vordergrund:

• Den semantischen Gehalt des Mentalen • Den qualitativen Charakter des Mentalen

Der qualitative Charakter des Mentalen, daß wir Schmerzen in einer qualitativ anderen Weise als Glück empfinden, ist es, was der Frage nach dem Bewußtsein ihre außerordentliche Brisanz verleiht. Wenn man von der Existenz des Fremdpsychischen ausgeht und die materielle Voraussetzung des Mentalen in einem höher entwickelten Nervensystemen zu finden glaubt, dann sollte es erschrecken, wieviel Schmerz, Leid und Elend es zu allen Zeiten in der Welt gegeben hat. Bedenkt man, daß die meisten der fast 7 Milliarden Menschen auf der Welt in Elend leben und die meisten der hochentwickelten Wirbeltiere in der Fleischindustrie gehalten oder von anderen Tieren gejagt werden, dann wird nach einer simplen wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegung nichts erschreckender erscheinen, als die Möglichkeit, daß unser phänomenales Empfinden nach dem biologischen Tod des Körpers erneut einer irdischen Lebensform ausgesetzt sein könnte. Dies führt konsequenterweise auf die Frage, nach der Ursache für Bewußtsein und des die Ich-Identität konstituierenden phänomenalen Empfindens, die hiermit wohl hinreichend motiviert sein sollte.

Wir wollen uns in diesem Vortrag dennoch auf semantische Gesichtspunkte der Bewußtseinsinhalte konzentrieren, zumal sowohl die Philosophie des Geistes, als auch die Neurowissenschaften hierzu mehr zu sagen haben. Die Annahme, daß neurowissenschaftliche Erkenntnisse Aufschluß über die Frage nach dem Bewußtsein geben können, wird in der Philosophie des Geistes vor allem durch den Konnektionismus vertreten.

Dem Konnektionismus stellt sich unter anderem die Frage, wie sich die semantischen Aspekte von Wahrnehmungs- oder Bewußtseinsinhalten aus neuronalen Prozessen konstituieren können. Um keine Position in der aktuellen Debatte innerhalb der Philosophie des Geistes bei der Frage nach der Natur des Mentalen beziehen zu müssen, spricht man in den theoretischen Neurowissenschaften von dem neuronalen Korrelat mentaler Zustände. Einfache Modelle neuronaler Netze, wie sie durch Warren McCulloch und Walter Pitts zunächst als Berechenbarkeitsmodell eingeführt und im ersten Teil des Seminars vorgestellt wurden, geben Anlaß zur Hypothese gnostischer Neurone (scherzhaft ist hierbei auch die Rede vom „Großmutterneuron“), deren Aktivität mit dem Erkennen einer Entität derart korreliert ist, daß die neuronale Aktivität eines einzelnen Neurons einem konkreten Wahrnehmungsinhalt, beispielsweise einer bestimmten Umweltsituation oder eben dem der eigenen Großmutter, entspricht.

Tatsächlich wurden in elektrophysiologischen Untersuchungen bei Wirbeltieren Neurone im visuellen System entdeckt, die durch bestimmte Formen, Farben oder Bewegungen in ihrem rezeptiven Feld stärker aktiviert werden, als durch andere Formen, Farben oder Bewegungsmuster, wie beispielsweise die Kantendetektoren im primären visuellen Kortex, welche auf Kanten mit einer bestimmten Raumorientierung reagieren. Es ist aber ausgeschlossen, daß es für jede nur denkbare Umweltsituation ein gnostisches (erkennendes) Neuron gibt. So kam man zu der Einsicht, daß visuelle Objekte, die sich durch die Kombination mehrerer Merkmale charakterisieren lassen, durch die Aktivität ganzer Neuronenverbände (Ensembles) codiert werden, wobei einzelne Neurone jeweils nur einfache Merkmalsdetektoren darstellen. Sieht man nun zum Beispiel ein rotes kugelförmiges Objekt sich von links nach rechts bewegen, so signalisieren dieser Idee zufolge in einer grob vereinfachten Darstellung verschiedene Neurone beispielsweise etwas Rotes, etwas Rundes und eine Bewegung von links nach rechts. Das Prinzip ist in der folgenden Abbildung dargestellt.

Unter dieser Annahme stellt sich jedoch die Frage, wie die neuronale Aktivität zahlreicher Merkmalsdetektoren zu dem Gesamteindruck eines sich bewegenden roten, kugelförmigen Objekt integriert werden. Wahrnehmungspsychologische Experimente zeigten, daß es unter gewissen Bedingungen und in Abwesenheit von Aufmerksamkeit tatsächlich zu falschen Verknüpfungen kommen kann, wobei beispielsweise Gegenstände in falschen Farben wahrgenommen werden können. Insbesondere stellte sich die Frage, wie verschiedene Merkmale unterschiedlicher Objekte an das jeweilige Objekt gebunden werden. Das Problem ist in der nachfolgenden Abbildung an die oben gezeigte Darstellung anknüpfend illustriert.

In diesem Fall wäre das neuronale System nicht in der Lage zu entscheiden, ob es sich bei der Wahrnehmung um einen roten Kreis und ein blaues Dreieck oder um einen blauen Kreis und ein rotes Dreieck handelt. Das beschriebene Problem wird als Binding Problem (deutsch Bindungsproblem) bezeichnet.

Christoph von der Malsburg, der ebenfalls auf dieses Problem aufmerksam wurde, entwickelte die Hypothese, daß eine gleichzeitige Aktivierung der an der Repräsentation eines jeweiligen Objekts beteiligten Neuronenverbände für das Zusammenführen dieser Information auf neuronaler Ebene verantwortlich sind [Mal81]. Experimentelle Messungen unter anderem von Wolf Singer und Andreas K. Engel, die neuronale Oszillationen im Bereich von 35 bis 90 Hertz (sogenannter Gammawellenbereich) im visuellen System der Katze oder des Affen nachwiesen, sind starke Indizien für diese Hypothese. Im vereinfachten Beispiel der Abbildung oben würde dies bedeuten, daß die Merkmalsdetektoren für die Farbe Rot und das Dreieck sowie jene für die Farbe Blau und den Kreis gegeneinander verschoben jeweils in gleichen Zeitabständen rhythmisch aktiv wären.

Christoph von der Malsburg entwickelte daran anknüpfend eine neurowissenschaftlichen Theorie des Bewußtseins, welche in diesem Vortrag vor dem geschilderten Hintergrund dargestellt und in Bezug zu den einzelnen semantischen Theorien gesetzt werden soll. Es wäre denkbar, die Kohärenz der neuronalen Aktivität, welche von der Malsburg als das Korrelat von Bewußtsein darlegt, durch die erhöhte Entropiedichte in der Raumzeit informationstheoretisch zu verallgemeinern und zu quantifizieren und daran anknüpfend einen neutralen Monismus zu etablieren, was jedoch, soweit bekannt, niemals getan wurde. So ließe sich entsprechend argumentieren, daß synchron getaktete Personalcomputer kein Bewußtsein haben können.

Zuzuordnen in die Fachbereiche: Theoretische Neurowissenschaften, Philosophie

Mathematische Voraussetzungen: keine

Literatur:

[ES97] ENGEL A.K. ; SINGER, W. : Neuronale Grundlagen der Gestaltwahrnehmung. In: Spektrum der Wissenschaft, Dossier 4/97 „Kopf und Computer“. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg: 66-73, 1997. pdf

[Mal81] v. d. MALSBURG, C. : The correlation theory of brain function. Internal Report 81-2, MPI Biophysical Chemistry, 1981. pdf

[Mal97] v. d. MALSBURG, C. : The Coherence Definition of Consciousness. In Ito, M. and Miyashita, Y. and Rolls, E. T., Eds. Cognition, Computation and Consciousness, pages pp. 193-204. Oxford University Press, 1997. pdf

[Mal99] v. d. MALSBURG, C. : The What and Why of Binding: The Modeler ́s Perspective.Neuron, 24(1):95-104, September 1999. pdf

[NT03] NOE, A. ; THOMPSON, E : Are there Neural Correlates of Consciousness? Journal of Consciousness Studies, 2003. pdf

[Si02] SINGER, W. : Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen. In GEYER, C. : Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neusten Experimente. Suhrkamp, 2004. pdf

[VT02] VARELA, F. J. ; THOMPSON, E. : Neural Synchrony and the Unity of Mind: A Neurophenomenological Perspective. In CLEERMANS, A. : The Unity of Consciousness: Binding, Integration and Dissociation, Oxford University Press, 2002. pdf

Wolf Singer: Binding by synchrony. Scholarpedia, 2(12):1657, 2007

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