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„Die Gene des Geistes“ Was macht den Menschen aus? Antwort suchen Genforscher im Erbgut des Schimpansen von Ulrich Bahnsen

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Die Gene des Geistes

Was macht den Menschen aus? Antwort suchen Genforscher im Erbgut des Schimpansen

von Ulrich Bahnsen

Die Überwachung ist lückenlos. Den Eingang der Chauvet-Höhle in der französischen Ardèche sichern Stahltüren, Videokameras und Wachpersonal. Penibel regeln innen Klimaanlagen Feuchtigkeit, CO2-Gehalt und die Temperatur der Luft. Sensoren prüfen die Mikrobendichte und warnen vor Pilzsporen. Schon der Schweißdunst und die Bazillenfracht einiger Besuchergruppen könnte beschädigen, was die Fachleute als „Sixtinische Kapelle der Vorzeit“ werten: Über 400 Gemälde auf 500 Meter Höhlenwand – Wildpferde, Büffel, Rhinozerosse, Löwen, Mammuts, porträtiert mit vollendeter Maltechnik. Manche sind 32 000 Jahre alt. Tief unter der Erdoberfläche, wohl 20 000 Jahre von der Menschheit vergessen und erst 1994 wiederentdeckt, erstreckt sich dieses einzigartige Zeugnis vom Beginn des menschlichen Geistes.

 

Was befähigte unsere Vorfahren zu diesen Meisterwerken? Schließlich hatte Homo sapiens schon Hunderttausende von Jahren existiert, ohne dass er mehr als primitives Steinwerkzeug – Handäxte, Faustkeile und Schabgerät – hinterlassen hätte. Schlagartig, ohne vorheriges Anzeichen für eine gemächliche Aufwärtsentwicklung, scheinen Technik und Kultur des Menschen in der steinzeitlichen Kulturrevolution vor 40 000 Jahren explodiert zu sein. Als die Maler in der Höhle zum Pinsel griffen, hatte sich der dramatische letzte Akt der Menschwerdung vollzogen, eine Entwicklung, die zunächst Kunst und Handwerk, Sprache, Schrift und Religion entstehen ließ, später die Kultur der Sumerer und Babylonier zum Blühen brachte und schließlich Raumfahrt, Internet und Quantentheorie hervorbrachte.

Weder Klimaverschiebungen noch Umweltveränderungen können nach Meinung der Fachleute den Umschwung erklären. „Offenbar verfügte der Mensch plötzlich und in vollem Umfang über alle heutigen Geisteskräfte“, sagt der Anthropologe Ian Tattersall vom Museum of Natural History in New York. „Die menschliche Kultur entstand aus dem Nichts.“

Die Initialzündung für den „Big Bang der Kultur“ vermuten die Experten inzwischen im Gehirn selbst. Waren es möglicherweise Veränderungen der Erbanlagen, die das Gehirn des Menschen in der Steinzeit umkrempelten und ihn zum Siegeszug über den Planeten anstachelten? Nun, seit das menschliche Erbgut entziffert in den Datenbanken ruht, hat die Suche nach Erbfaktoren, die dem Aufschwung des Kulturwesens Mensch zugrunde liegen, im Ernst begonnen.

Ihr Halblitergehirn ermöglicht Affen ein komplexes Sozialleben

Mit ehrgeizigen Forschungsprojekten wollen deutsche und japanische Wissenschaftler die Biologie des humanen Geistes enträtseln. Den Schlüssel hoffen sie in den lebenden Zeugen der evolutionären Vergangenheit der Menschheit zu finden – den Schimpansen. Denn in den genetischen Unterschieden zwischen Mensch und Affe, so mutmaßen die Forscher, verbirgt sich das Geheimnis der besonderen menschlichen Natur, das biologische Grundgerüst der Intelligenz. Das Rätsel des Verstandes werde man erst lüften können, meint der US-Forscher Edwin McConkey von der Universität von Colorado, wenn „wir die genetischen Unterschiede zwischen Mensch und Schimpansen verstehen“.

Auf der Suche nach den entscheidenden Differenzen der Erbanlagen gehen Forscher der Max-Planck-Institute für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig und für Molekulare Genetik in Berlin daran, auch im Schimpansengenom zu lesen. Trotz ihres Halblitergehirns besitzen diese Primaten ein komplexes Sozialleben, benutzen Werkzeuge und bedienen sich ausgeklügelter Jagdstrategien. Gleichwohl fehlen ihnen die geistigen Fähigkeiten des Menschen.

Umso erstaunter waren die Gelehrten, als die US-Forscher Marie-Claire King und Allan Wilson 1975 den genetischen Verwandtschaftsgrad taxierten: Mit damals noch kruden Verfahren bezifferten sie den Unterschied auf nur ein Prozent. Bis heute hat sich die überraschende Erkenntnis immer wieder bestätigt – 98,4 Prozent der Erbsubstanz von Mensch und Schimpanse sind identisch. „Ein außerirdischer Genetiker würde den Menschen, ohne zu zögern, als dritte Schimpansenart einstufen“, witzelt der amerikanische Physiologe Jared Diamond.

Nur ein winziger Bruchteil unserer Gene sei demnach für alles Menschliche verantwortlich, sinniert das Fachblatt Science, „vom aufrechten Gang bis zur Poesie“. Den kleinen Unterschied der Erbinformationen soll die deutsch-japanische Forscherriege nun aufspüren. Die Max-Planck-Forscher Svante Pääbo und Hans Lehrach bündeln derzeit die Kapazitäten der deutschen Genomzentren für das Schimpansenprojekt. Mit von der Partie sind Experten der Universität Jena und der Gesellschaft für biotechnologische Forschung (GBF) in Braunschweig. Fürs Erste wollen die Deutschen die Geninformation vom Schimpansenchromosom 21 entschlüsseln und für den Vergleich mit dem menschlichen Cousin vorbereiten.

Noch fehlt den deutschen Dekodiertrupps die Zusage der Kassenwarte. Ende Januar schreitet man bei der Deutschen Luft- und Raumfahrtagentur (DLR), die bei der Genomforschung als Projektträger für das Wissenschaftsministerium fungiert, zur Begutachtung der deutschen Forschungspläne. Rund 50 Millionen EURO werden dann unter den deutschen Erbgutforschern verteilt. Lehrach hofft auf einige Millionen für das Schimpansenprojekt.

Gleichwohl dürfte es alles andere als einfach sein, den Schatz der Intelligenzgene zu bergen. Um die 30 000 Erbanlagen verbaut die Natur bei der Errichtung eines Menschenhirns. Erst ihr präzise abgestimmtes Zusammenspiel lässt das Hirn wachsen und bringt es zum Arbeiten. In einer Vielzahl kleiner genetischer Unterschiede, lautet das Credo der Forscherriege, muss der Schlüssel zum Bau der Hirn-Hardware zu suchen sein. „Nehmen Sie die Sprache“, sagt der Evolutionsgenetiker Pääbo, „es gibt kein Gen für Sprache, aber es gibt ein genetisches Gerüst, das man braucht, um sich Sprache anzueignen, und ebenso eines, an dem die Kulturfähigkeit des Menschen aufgehängt ist.“

Der Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie hat mit seinem Team begonnen, auch erste Bereiche vom X-Chromosom des Schimpansen zu entziffern. Ihre japanischen Kollegen sind bereits vorgeprescht: Sie haben die Entzifferung des Affenchromosoms 22 in Angriff genommen. Und im April wollen Forscher im Genome Science Center und vom Brain Science Institute bei Tokyo mit dem systematischen Vergleich von Genen beginnen, die im Sprachzentrum des Gehirns aktiv sind. Neben seinem Intellekt unterscheide vor allem das Sprachvermögen den Menschen von allen Tieren, sagt Yoshiyuki Sakaki, der Leiter des Forschungsfeldzugs.

Die genetische Rasterfahndung im Hirn hat auch Pääbos Leipziger Forschergruppe gestartet. Schon beim Abgleich der Aktivitätsmuster von rund 20 000 Genen bei Mensch, Schimpanse und Rhesusaffe ergab sich eine heiße Spur. „In Leber und Blut sind Mensch und Schimpanse genetisch recht nahe beieinander“, sagt Pääbo, doch im Hirn seien die Unterschiede im Arbeitstempo der Gene zwischen Menschen und beiden Affenarten viermal größer. Bei den Veränderungen seiner Genfunktionen während der Evolution habe „das Menschenhirn einen Spurt hingelegt“, meint Wolfgang Enard, der in Pääbos Labor die genetische Hirnvermessung leitet.

Pääbo glaubt nicht an spezifisch menschliche Gene. Eher, meint der gebürtige Schwede, seien wohl viele winzige Umbauten in den Genen für die Leistungen des Menschenhirns verantwortlich. Schon punktuelle Veränderungen, etwa in den Steuerungselementen von Genen, können bewirken, dass die Erbanlagen stärker aktiv sind, in anderen Zelltypen erwachen oder zu anderen Zeiten, etwa in der Embryonalentwicklung, an- und abgeschaltet werden. Im komplexen Räderwerk der Genfunktionen kann so etwas dramatische Folgen haben. Schon eine geringe Änderung im genetischen Programm für das Wachstum der Hirnzellen im Fötus, rechnet der amerikanische Biologe David Nelson vor, habe möglicherweise für die Größenzunahme des menschlichen Hirns ausgereicht.

Gene und Lernprozesse bauen das Gehirn um

Nelsons Ideen sind offenbar mehr als bloße Spekulation. Erst im November hatten US-Forscher bei gentechnisch modifizierten Mäusen verbesserte Lern- und Gedächtnisleistungen registriert. Durch den Eingriff erzeugten die Nager erhöhte Mengen des Hirnsignalstoffs Nerve Growth Factor (NGF). Die Tiere bildeten ganz neue Nervenbahnen, die ihnen eine bessere Orientierung in Labyrinthversuchen bescherten. „Das Wechselspiel zwischen Gen und Lernerfahrung“, sagt Teamchef Howard Federoff, habe eine „ziemlich dramatische Neuorganisation“ im Hirn der Tiere ausgelöst.

Auch das amerikanische Start-up-Unternehmen Evolutionary Genomics in Denver hat die Suche nach spezifisch menschlichen Genen aufgenommen. Beim Vergleich mit 10 000 neu entschlüsselten Schimpansengenen, verkündet Forschungschef Walter Messier stolz, sei man auf zwei Erbanlagen gestoßen, „die mit kognitiven Fähigkeiten zu tun haben“. Die beiden Gene, verrät er noch, „steuern die Architektur der Hirnteile“. Mehr ist ihm nicht zu entlocken – die Ergebnisse sind noch nicht veröffentlicht. Zwar sei die Firma eher an Genen interessiert, die Schimpansen vor Aids und Alzheimer schützen, räumt Messier ein. Doch auch für ihn ist die Suche nach den Erbanlagen für die Geisteskraft „die wichtigste Frage, die man überhaupt stellen kann: Was macht uns zum Menschen?“.

Die Biologie gibt da bislang nicht viel Handfestes her. Zwar lassen sich manche charakteristische Unterschiede an Chromosomen, Genen und auch Eiweißen inzwischen benennen. Doch das Rätselraten, welche Differenzen dem Menschen zum Geist verhalfen und welche bloß Spielereien der Evolution darstellen, werde sich erst mit dem Erbgutvergleich zwischen dem Menschen und seinen Verwandten beenden lassen, meinen die Wissenschaftler.

Nicht nur angesichts des Erkenntnisnotstands sind die Zeiten für die deutsch-japanische Forschungsallianz günstig. Denn die amerikanische Konkurrenz hält sich auffällig zurück. Zwar hatten auch namhafte US-Wissenschaftler erst vor fünf Monaten im Fachblatt Science ein Schimpansengenomprojekt gefordert. Doch die mächtigen Forschungszentren der Vereinigten Staaten zögern. Angeblich würden den US-Experten Steuergelder für die Schimpansenforschung aus politischen Gründen vorenthalten, wird in der scientific community kolportiert. „Vierzig bis fünfzig Prozent der Amerikaner lehnen die Idee ab, dass der Mensch durch Evolution entstanden ist“, erklärt Edwin McConkey: „Und das ist der Grund, warum die Vereinigten Staaten kein chimp-Projekt haben, obwohl kein Regierungsvertreter das je zugeben wird.“ Das dürfte sich unter der Bush-Administration kaum ändern. „Mit dem neuen Präsidenten wird das alles nur noch schlimmer“, stöhnt der Anthropologe Richard Klein von der Stanford University.

Doch wer immer die Entzifferung auf sich nimmt, mit der Genbuchstabiererei wäre die Mammutaufgabe noch längst nicht bewältigt. „Schon wir Menschen unterscheiden uns in jedem tausendsten Genbaustein“, warnt der Genomfachmann Rudi Balling, unter Schimpansen sei die genetische Vielfalt noch zehnmal größer.

Welche Veränderungen wirklich entscheidend sind für die menschliche Natur, wird daher durch Augenschein allein nicht zu prüfen sein. Und Bioinformatik-Software, die solche Rechenkünste bewältigen kann, meint Balling, müsse erst einmal geschrieben werden. „Das Ganze ist eine Investition in die Zukunft“, sagt der GBF-Forschungschef. Auch der amerikanische Forscher Ajit Varki dämpft allzu hohe Erwartungen: „Natürlich wünschen wir uns eine simple genetische Erklärung für das Phänomen Mensch“, doch sei der Sprung vom Baumbewohner zum Internet-User wohl durch eine Vielzahl kleiner genetischer Schritte zu erklären. Immerhin, fügt Varki an, „müssen die sichtbare Spuren im Erbgut hinterlassen haben“.

Ein paar jener Fußstapfen vom langen Marsch der Evolution hat Robert Plomin vielleicht bereits entdeckt. Seit 25 Jahren sucht der Wissenschaftler vom Londoner King’s College nach Ursachen für die Unterschiede der generellen Intelligenz beim Menschen – ein Geschäft, das ihm wenig Freunde einbrachte. „Ich wurde sogar als Nazi beschimpft“, sagt der gebürtige Kalifornier. Bei genetischen Vergleichen zwischen einer Gruppe hoch intelligenter Kinder mit normal begabten stieß Plomin vor zwei Jahren auf eine Region im Chromosom 6. Die Stelle enthält das Gen für ein Empfängermolekül für den Wachstumsfaktor IGF-2. Der Stoff war längst bekannt als Signalgeber, der im Stoffwechsel und beim Embryowachstum eine Rolle spielt. „Es war seltsam“, erinnert sich der Forscher, „gerade hatten wir festgestellt, dass IGF-2 zu Intelligenzunterschieden beitragen könnte, da entdeckten andere Kollegen, dass es auch im Gehirn vorkommt, genau im Lern- und Gedächtniszentrum.“ Plomin hat inzwischen drei weitere Orte auf dem Chromosom 4 festgenagelt, wo er Intelligenzgene vermutet. „Ich sage nicht, dass Intelligenzunterschiede gänzlich genetisch sind“, meint Plomin. „Und vor allem gibt es nicht das Gen für Hochbegabung – doch jedes der sicherlich vielen Gene trägt seinen Teil zu den messbaren Unterschieden bei.“

Nicht nur in der Größe, vor allem in der jenseits allen Vorstellungsvermögens liegenden Feinverdrahtung der Denkzellen orten die Neuroforscher den Geist: rund 100 Milliarden Hirnzellen, jede von ihnen mit etwa 10 000 anderen in ständigem Kontakt. Und doch wurzelt das Mysterium in den Erbanlagen. Denn die Konstruktionsskizze für das geheimnisvolle Nervengeflecht im Schädel ist im komplizierten Beziehungsgeflecht der Gene niedergeschrieben.

Ein plötzlicher Wechsel im Gewisper der Gene, die das Hirn bauen, glaubt der Anthropologe Richard Klein, könnte auch die unerwartet aufschäumende Kunstfertigkeit der Maler von Chauvet und ihrer Zeitgenossen erklären. Eine genetische Veränderung habe die Nervenbahnen der frühen afrikanischen Menschen damals neu strukturiert, glaubt der Forscher von der Stanford-Universität. Dabei habe die Evolution gleichsam den letzten genetischen Schalter umgelegt, der aus einem anatomisch modernen den auch verhaltensmäßig modernen Menschen entstehen ließ.

Noch ist rätselhaft, wo sich das entscheidende Genrelais in den Chromosomen verbirgt. Doch wann es geklickt hat, haben die Evolutionsgenetiker bereits ermittelt. Aus genetischen Stammbäumen, errichtet mit den Erbgutinformationen heutiger Menschen, können sie die Geburtsdaten des menschlichen Geistes inzwischen rekonstruieren: Vor 52 000 Jahren war er im südlichen Afrika schon am Leben. Von dort brach ein Trupp von vielleicht nur 2000 Menschen auf, die Welt zu erobern. Zuerst dürften die Kolonisten Asien in Besitz genommen haben. Schon wenige Jahrtausende später hatten ihre Nachfahren Westeuropa erreicht. Und sie, auch das verraten die Spuren im Erbgut, waren die Maler in der Höhle von Chauvet.

Quelle: ZEIT online

 

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