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Unsere Medizin braucht mehr Gefühl

12.03.2018

Unsere Medizin braucht mehr Gefühl

VON JULIA SCHAAF

Wie viel Gefühl braucht unsere Medizin? Jalid Sehouli glaubt: sehr viel. Über einen Krebsspezialisten, der Bücher schreibt und die Willkommenskultur auch im Krankenhaus lebt.

„Ich bin Marrakesch“, schreibt Jalid Sehouli in einem seiner beiden Bücher, die morgen erscheinen, und wenn man nach einem langen Tag bei Sehouli im Krankenhaus wissen will, was dieser merkwürdige Satz bedeuten soll, antwortet der Professor mit einem feinen, amüsierten Lachen.

Auf den taubenblauen Linoleumfußböden der Charité ist es still geworden. Erst in der Nacht ist der Leiter der Frauenklinik von einer Reise ins Ausland zurückgekommen, am nächsten Tag geht es nach Düsseldorf. Eine neue Studie hier, Beratungen über Arzneimittelzulassungen dort. Die Sekretärin klagt, die Zahl der Projekte ihres Professors steige seit Jahren an. Vormittags hat der Neunundvierzigjährige die entscheidenden drei Stunden einer langwierigen Bauchoperation übernommen. Nachmittags saßen nacheinander drei Patientinnen in seinem Büro. Krebs. Krebs. Krebs.

Zwischendrin hat Sehouli für Fotos posiert, erst am Operationstisch, dann bei seinem türkischen Friseur im Wedding, unweit der Klinik, wo er aufgewachsen ist. Jetzt noch ein Gespräch mit einer Frau, die landauf, landab Selbsthilfegruppen für Eierstockkrebspatientinnen gründet, weil sie aus eigener Erfahrung weiß, wie groß die Panik der Betroffenen angesichts dieser meist tödlichen Diagnose ist. Jalid Sehouli, sagt die Aktivistin, gehöre zu den wenigen Ärzten, die das verstünden. Und dass es mehr Aufklärung brauche, mehr Psychoonkologie, mehr Sterbebegleitung. „Da ist er supergut“, sagt sie. „Offen. Ein Querdenker.“

Draußen ist es längst dunkel, als der Chefarzt seinen weißen Kittel über eine Stuhllehne wirft. „Marrakesch ist ein Mysterium“, antwortet er dann.

 

Ein Mann, der alle Schubladen sprengt

Nun ist Jalid Sehouli kein Mysterium. Aber dieser Mann sprengt die Schubladen, in die man Chefärzte oder Bildungsaufsteiger mit Migrationshintergrund für gewöhnlich gern sortiert. Ein habilitierter Mediziner, der sich die Gastfreundschaft einer marokkanischen Stadt zum Vorbild nimmt und deshalb auch im Krankenhaus seine Patienten mit den Worten „Herzlich willkommen“ begrüßt. Einer, der nicht um seine Seriosität als Wissenschaftler fürchtet, wenn er sich in einem Buch „über mich und mein Herz und meine Seele“ auslässt. Zudem behauptet Sehouli, dass seine Arztbriefe besser geworden seien, seit er sich auch als Schriftsteller betrachte, weil es ihm beim Schreiben nicht mehr nur um Information und Absicherung gehe, sondern um Wertschätzung und Dialog: Warum, fragt Sehouli, lese man nie, „wir sind sehr traurig, dass unsere Patientin gestorben ist“? Warum formuliere niemand seine Freude darüber, dass eine komplizierte Operation erfolgreich verlaufen sei?

Sehouli plädiert für eine Medizin, in der Gefühle, Persönlichkeit, Beziehungen eine Rolle spielen. Als Professor und Klinikdirektor, als Leiter des Europäischen Kompetenzzentrums für Eierstockkrebs kann er sich das erlauben. Der gebürtige Berliner trägt das Selbstbewusstsein des erfolgreichen Arztes vor sich her, er redet viel und durchaus gerne von sich selbst, seine medizinische Qualifikation steht außer Frage. Interessant ist deshalb, wie sich sein Ruf nach mehr Empathie und Menschlichkeit im Krankenhaus begründet, und seine grundverschiedenen Bücher, die jetzt zufällig zeitgleich in den Handel kommen, geben darauf zwei Antworten: Zum einen liegt es am Fachgebiet. Zum anderen hat es mit seiner Herkunft und Biographie zu tun.

Quelle: FAZ

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